aspektualisieren statt analysieren

 

Die Transposition „Was ich warnehme existiert – das Warnehmende existiert“ kann darauf hinweisen, dass etwas thematisiert wird, das in der Geschichte des Denkens eher selten angesprochen wurde.

Berkeley’s Axiom vergleiche ich im Folgenden mit Descartes’ „ich denke, also bin ich“, das sich philosophisch Interessierten ähnlich nachhaltig eingeprägt hat. Ich möchte daran Unterschiede deutlich machen. Diese Unterschiede sind für die Interpretation von Belang. Besonders im Hinblick auf das, was mit Berkeley’s Axiom philosophierend möglich werden kann.

Beide Axiome betreffen den Zusammenhang zwischen geistigen Aktivitäten und Existenz, anders gesagt zwischen Denken und Leben. Doch beide Axiome unterscheiden sich durch das jeweils Gemeinte voneinander, wenn dem Feststellen durch den ersten Blick weiteres Hinsehen folgt.  

Descartes Axiom ist im Kontext seiner Dichotomie (Zweiteilung ) „res extensa“  und „res cogitans“ angesiedelt. In dieser zweigeteilten Welt von Welt/Materie und Denken/Geist gibt es Rahmenbedingungen des Philosophierens, die durch Zerschneiden oder Zerlegen von etwas Ganzem, durch Trennung von Denken und Leben gekennzeichnet sind. (Hoffmeister’s Wörterbuch der Philosophie: „Die Analyse ist die Zerlegung eines Ganzen in seine Teile.“) Die philosophische Haupttätigkeit ist bei Descartes  „analysieren“ . Die Gewissheit der Ergebnisse des Analysierens ergibt sich aus der von ihm behaupteten Selbstgewissheit des Denkenden. bzw. seines Denkens; traditionell kann dieser Sachverhalt als „Sein’ gleich „Denken“ formuliert werden. Es ist das Denkmuster des neuzeitlichen Rationalismus, das sich über ein Jahrhundert später z. B. durch die Kantischen Analytiken zieht und weitere Nachfolgen hervorruft.  

Gott als Garanten lasse ich an dieser Stelle außen vor. Ich sehe die „Notwendigkeit“ Gottes als Garanten vor allem als zeitbedingt, die dem scholastisch-christlichen Rahmen Cartesianischen Denkens entspricht und eigentlich in die philosophische „Gespensterlehre“ (Fritz Mauthner) bzw. zu den  „Idola“ von Francis Bacon gehört. Gott ermöglicht laut Berkeley keine Vermehrung von Kenntnissen.

(Literatur: Alexandre Koyré: Descartes und die Scholastik. Übersetzungen V, Edith Stein Gesamtausgabe. Freiburg i. B. 2005. – Rainer Schäfer:  Zweifel und Sein: der Ursprung des modernen Selbstbewusstseins in Descartes Cogito. Würzburg 2006. )

 

Wie Descartes so geht auch Berkeley von dem Ganzem, von Leben und Denken aus. Doch er analysiert es nicht, sondern er nähert sich ihm warnehmend von allen Seiten. Dies ergibt verschiedene Blickwinkel bzw. Sichten auf das Wargenommene, auch Aspekte genannt. Die Tätigkeit dieses Warnehmens ist „aspektualisieren“. Berkeley charakterisiert sie näher mit Termini wie Warnehmungen, bzw. Vorstellungen haben, Erinnern, Denken, … Dies  entspricht einem Sammeln von verschiedenen Aspekten von Etwas. Derartige Sammlungen sind das Material aus dem Berkeley seine Schlussfolgerungen zieht, also denkt. Die Gewissheit seiner Ergebnisse ergibt sich für ihn ausschließlich aus seinem Warnehmen. Er legt sie anderen zur Beurteilung vor.  

Ähnliches hat Locke getan. Er wollte „schlicht erzählen“, was sich ihm zeigt. Philosophiehistoriker nennen dies „naiv-populäre Anschauungsweise“ und machen damit deutlich, was sie davon halten. Vgl. Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Leipzig 1919.

„Was ich … vor lege, sind … Lehrsätze, … Ich gebe nicht vor, sie durch Zahlen, Analogie oder Autorität zu beweisen. Durch ihre eigene Evidenz sollen sie stehen und fallen.“ (PTB 522/532)

Evidenz ist bei Berkeley das, was jeder der warnimmt nachvollziehen kann. Die Tätigkeit „aspektualisieren“  ist nicht nur vielseitig orientiert, sondern wird auch kontinuierlich aktualisiert. Ob etwas zutrifft, hängt also davon ab, ob es wargenommen, also nach aufmerksamem und wiederholtem Hinsehen bestätigt werden kann.  „Ein nicht wargenommenes Ding ist ein Widerspruch.“ (PhTb569/579) An diesem Widerspruch entzündet sich jeder Widerspruch in der Sache.

Hinweis PTB: Die erste Zahl bezieht sich auf die Meiner-Ausgabe 1926, die zweite auf die von 1979.